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HOPPECKE HERZ Die Unschärfen der Erinnerung, Installation 

Kulturschiene Sauerland, Symposium und Ausstellung 1.7. bis 20.7.2025

Kloster Bredelar und Essigturm Brilon-Wald

Foto: Kristien Daem, Brüssel

 

Texte

Gunhild Tuschen        HOPPECKE HERZ

Die Unschärfen der Erinnerung.
Wenn ich meine, es genau zu erinnern, kann es anders gewesen sein.
Es ist allein meine Erinnerung.

Regionale Industriekultur – die Thematik des Projekts ”Kulturschiene Sauerland” geht mitten hinein in meine Familiengeschichte. Es gab in meiner Familie das Sägewerk an der Hoppecke, zwischen Eisenbahn und Bundesstraße. Es gab die Verbindung zwischen Ruhrgebiet und Sauerland. Das Foto mit Pferdefuhrwerk im Vordergrund und Dampflok im Hintergrund, das ist sprechend für eine Zeit im Übergang – im Dazwischen – im technologischen Wandel.
Das war mein Ausgangspunkt. Die Reise konnte beginnen.

Das Sägewerk Gebrüder Fahle. Es lag an der alten Bundestraße 7, zwischen Beringhausen und Messsinghausen, zwischen Hoppecke und Bahnlinie. Das Gelände wurde aufgrund früherer Tätigkeiten dort Hackhammer genannt. Mein Urgroßvater, Josef Fahle, ein Zimmermann aus Brilon, hat das Sägewerk in der Mitte des 19. Jahrhunderts gegründet. Seine Söhne Josef, Johann und Anton haben es übernommen bzw. darin gearbeitet. Josef war mein Großvater. Die Familien Fahle lebten in der Josefstadt in Beringhausen, gegenüber vom Bahnhof. Hier bin ich aufgewachsen.
Mein Vater Josef Tuschen leitete das Werk einige Jahre zusammen mit Hans Fahle, einem der Söhne Johann Fahles. Das Sägewerk wurde mit Wasserkraft betrieben, über einen von der Hoppecke abgezweigten Wasserlauf, den Mühlenbach. Es gab ein Mühlrad, lederne Riemen übertrugen die Kraft und trieben das Sägegatter an – ein beeindruckender Vorgang 
und mein frühes Erfahren von Zusammenhängen. Meine Mutter hatte das Wasserrecht, mein Vater Forellen. Und immer gackerten Hühner.

Es bestand eine rege Verbindung zwischen dem Ruhrgebiet und dem Sauerland.
Das Sägewerk im Hoppecketal lieferte Holz für die Bahn und den Grubenbau. Im Kontokorrentbuch aus dem Jahr 1943 sind entsprechende Lieferungen verzeichnet, handschriftlich ausgeführt, wahrscheinlich von meinem Großvater.

In den 1960er Jahren kam es zur Teilung. Mein Vater gründete ein Betonsteinwerk, Hans Fahle führte das Sägewerk weiter. Das Sägewerk gehört zur Familiengeschichte. Es bestimmte den Familienalltag so wie später das Betonsteinwerk. Besitzer und Produktionen haben im Laufe der Jahre gewechselt. Auf einem Teil des Geländes arbeitet heute die Firma Schirm, 
auf dem anderen die Natur. 

Geschichte besteht aus faktisch Geschehenem zugleich aus dem, was wir daraus machen, aus geschichteten Erinnerungen, Bildern, Geräuschen, Gerüchen und Erzählungen. 
Wir machen Geschichte zu unserer Geschichte.
Teile nehmen wir mit, setzen sie anders zusammen, wir verändern, lassen was weg, wir schmücken aus, wechseln die Klangfarbe und sind uns doch sicher: So ist es gewesen. 

Unschärfen der Erinnerung.

Leerstellen.

Eindrücke verschwinden. Gewesenes ist nicht mehr fassbar. Wir verschwinden, spalten ab, verdrängen, verklären, vergessen. Und da sind wir beim Erinnern an Vergangenes im Heute.
– Beim Thema Subjektivität im vermeintlich Objektiven, in der Fotografie und den Möglichkeiten ihrer Manipulation.
– Beim Thema gelebter Abspaltung und Verdrängung des zuvor Geschehenen nach dem zweiten Weltkrieg in den 1950er und 1960er Jahren. Darin bin ich aufgewachsen.
Kinder spüren das Verschwiegene im Ungesagten.

Was war in der Nazizeit, was in den Kriegsjahren?
Wie war das im Sägewerk meines Großvaters?
Wie überall in Deutschland, gab es im Sauerland Arbeitslager. Überall, in Brilon und Brilon-Wald, in Madfeld, im Wald zwischen Bredelar und Niedermarsberg, mitten in der Stadt, mitten im Dorf ... das Netz der Lager war auch im Hoppecketal dicht gespannt.
Nach einer Zusammenstellung von 1949 des damaligen Landkreises Brilon waren in 48 Lagern von 1939 bis 1945 zwischen 2635 und 2800 Zwangsarbeiter:innen und Kriegsgefangene untergebracht. Sie mussten in großen und kleinen Betrieben arbeiten, in Alme, Altenbüren, Bigge, Brilon, Brilon-Wald, Elleringhausen, Grönebach, Hallenberg, Hoppecke, Madfeld, Medebach, Medelon, Messinghausen, Nehden, Ober- und Niedermarsberg, Niedersfeld, Olsberg, Referinghausen, Rösenbeck, Siedlinghausen, Wiemeringhausen, Winterberg und Züschen. Viele haben das nicht überlebt, wurden hingerichtet oder starben aufgrund ihrer 
Lebens- und Arbeitsbedingungen.
Die Aufzeichnungen dazu aus diesen Jahren aus den Archiven in Arolsen und Brilon verzeichnen keine Zwangsarbeit auf dem Sägewerk meines Großvaters in Messinghausen. Das ist es, was ich in Erfahrung bringen konnte. Die Aufzeichnungen sprechen für sich. Meine Fragen bleiben.

Was wir wie erinnern. Manches erinnern wir deutlich, manches bruchstückhaft, manches gar nicht mehr. Das, was wir meinen zu erinnern, verschwimmt und verliert die klaren Umrisse. Unsere Bilder werden brüchig, Farben verändern sich, Geräusche bleiben haften, so wie Düfte – Kartoffeln, Mairegen, frisch geschlagenes Holz. Wir wechseln das Kleid, packen ein und an die Seite; wir schichten Erfahrungen und vermengen alles das – auch mit unseren Wünschen und Hoffnungen – so hätte es sein können. Alles das, was verschwindet in den Windungen unseres Körpers, verliert sich und lebt doch mit im heute, mehr oder 
weniger bewußt.

Ich bin die Fünfjährige, die auf dem Sägewerk spielt, im Schuppen am Mühlenbach. Er ist hier zugänglich, nur zu einem Teil gibt es zum Wasser hin eine Bretterwand. Das Wasser fließt in einem Becken zum Mühlrad. Dort, wo ich bin, ist das Auf- und Abfahren der Sägeblätter zu hören, es bildet den Grundton, trtrtrtrtrtrtrtr ... gleichmäßig, der Takt wird gehalten. Es ist schummrig, auf eigene Weise still. Von Ferne dringen Stimmen hinein, das Rauschen der Fichten, Vögel singen. Das Licht fällt durch die Zwischenräume der Hölzer, es tanzt auf dem Wasser ... vor allem das Licht, Japan im Sauerland  

Ich bin vielleicht zehn Jahre alt – es werden zwei Menschen erwartet, um im Betrieb meines Vaters mit zu arbeiten. Aus Anatolien? ... ich weiß es nicht mehr. Wir richten die Wohnung für sie her im Fachwerkhaus, in dem jetzt auch das Büro ist – Küche, Bad, ein Schlafzimmer, ein Wohnzimmer; meine Schwester Marile, mein Vater und ich. Es gefällt mir. Die beiden Männer sprachen und verstanden kein Deutsch. Sie werden Heimweh gehabt haben


Ich bin die 12-jährige, die nach der Schule mit dem Vater zum Betrieb fährt. Ich sitze am Schreibtisch, das Fenster ist auf, ich schaue in die Bäume, höre die Hoppecke. Ich addiere Zahlen, schreibe Angebote und Rechnungen, nehme Anrufe entgegen – zuhause in der Josefstadt war es 325 Tuschen ... ich bin die 67-jährige, die sich an ihre Erinnerungen erinnert

Erinnern – Erinnerung – Es ist wie eine Landschaft, durch die wir gehen, wie ein Spaziergang. Mal geht der Blick in die Ferne, schweift ab, wir schauen hoch in den Himmel, neigen den Kopf, sehen zur Seite, wenden uns ab, schauen nach unten, entdecken ein Blatt, einen Stein, viele – Geröll – wir stolpern, springen, wir versinken, tauchen wieder auf, machen eine Drehung

Wir sehen zwei Männer, die Holz sägen, wenn wir nicht wissen, wer das ist. Wenn wir wissen, wer das ist und was sie tun, schauen wir anders darauf? Auch dann nehmen wir wahr, was wir sehen können und wollen. Wir übersehen, verändern den Ton, lassen was weg, interpretieren. Wir setzen das Bild neu zusammen und schaffen unser eigenes Bild. Das nehmen wir mit. Zu wissen, was und wer auf einem unscharfen Foto nicht zu erkennen ist, kann hilfreich sein. Doch wie ich das erinnere, bleibt offen. Ich sehe zwei Männer, die Holz sägen; heute weiß ich, einer der beiden ist der Bruder meines Großvaters, Johann Fahle.

Ich möchte mich herzlich bei allen bedanken, die mit mir unterwegs waren, ihre Erinnerungen und ihr Wissen um die Familiengeschichte Fahle mit mir geteilt haben und mir ihre ureigenen Geschichten und das eine oder andere Bild gegeben haben – auf einmal hatte mein Urgroßvater wieder ein Gesicht. Auf einmal saß ich wieder am Esstisch in Beringhausen und es war alles da – all die Menschen aus meiner weit verzweigten Verwandschaft, die zu meiner Kindheit gehörten, die, die noch lebten und die, die schon gestorben waren, sie alle saßen immer mit am Tisch. 

Die meisten der Fotografien sind aus dem Nachlass meiner Mutter, Elly Tuschen geb. Fahle. Das Foto von Johann Fahle mit der Säge hat mir Heinz-Wilm Grote zukommen lassen, das der Urgroßeltern stammt von Rolf Huxoll. Die Farbfotos aus den 70er Jahren hat mein Vater gemacht, die vom Gelände aus 2005 sind von mir, so wie alles, was ich damit und zum Thema weiter getrieben habe. Das „Behältnis” aus Leder ist aus den Antriebsriemen des Gatters gefertigt worden. Die Rechenmaschine ”FACIT” wird wohl mein Vater angeschafft haben, im Büro wurde damit gearbeitet. Der Wollmantel wurde in Niedermarsberg maßgeschneidert für meinen Onkel Josef, den einzigen Bruder meiner Mutter.
Er sollte mal in das Sägewerk einsteigen. Doch er ist im zweiten Weltkrieg gestorben. Sein Bild hing im Esszimmer. Seinen Mantel habe ich viele Jahre getragen, er war schwer, wärmte mich aber wie kein anderer Mantel mich gewärmt hat. Ein schwarzes Bakelittelefon hing an der Wand im Flur meines Elternhauses. Informationen, Aufzeichnungen zur Zwangsarbeit habe ich aus dem Archiv in Arolsen und dem Stadtarchiv in Brilon. Falls nicht anders benannt, sind die Texte von mir. Entstehungsgeschichte, Entwicklungen und Veränderungen des 
Sägewerks meiner Famlie sind exemplarisch – es gab einmal viele kleinere und größere Sägewerke im Sauerland, mittlerweile gibt es nur noch wenige.

Dank an alle Mitwirkenden.
Dank an Heiko Tiedemann von Trageser in Bremen.
Dank an Peter Engels und an das Team vom Kloster Bredelar.
Dank für die Fichtenspäne. Vielleicht kommt noch Eiche hinzu? ...
Dank an Christiane und Frank für die Gastfreundschaft im Leintal.
Dank an Rolf und Heinz-Wilm.
Dank an meine Schwestern Marile und Iffi.
Last but not least, dank an meinen liebsten Wegbegleiter, 
ich danke Dir Wolfgang für Dein Ohr und Deine Unterstützung.

Gunhild Tuschen, Bremen 23. Juni 202

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